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Wenn Gefühle den Appetit steuern – Emetophobie, Stressessen und Essstörungen im Fokus

Aktualisiert: 18. Apr.

Lauffeuer

Fühlst du dich manchmal überwältigt von deinen Emotionen, sodass dein Essverhalten plötzlich aus der Hand zu laufen scheint? Anstatt bewusst zu entscheiden, was und wie du isst, reagiert dein Körper auf Stress, Angst oder Traurigkeit – und oft bleibt dein Wohlbefinden auf der Strecke?


Ein Thema welches für viele Betroffene aufgrund von Scham- und Schuldgefühlen stark tabuisiert ist. Ich durfte in den letzten Jahren einige Erfahrungen mit Klienten sammeln, die Herausforderungen in diesem Bereich hatten. Davon werde ich berichten, Mut machen und einige meiner Perspektiven teilen. In diesem Beitrag wirst du ebenfalls etwas über das Thema Trauma und Emetophobie erfahren.



Zahlen:


Exakte Zahlen zu Essstörungen sind schwer zu fassen, da die Untersuchungen stark auseinandergehen. Man schätzt, dass in westlichen Ländern zwischen 5,5 % und 18 % der jungen Frauen und bis zu 2 % der jungen Männer bis ins frühe Erwachsenenalter betroffen sein könnten. Die Dunkelziffer wird hoch eingeschätzt.


Die COVID-19-Pandemie hat zu einem deutlichen Anstieg der berichteten Fälle geführt. Quelle: Wunderer, E. et al. (2024): Essstörungen


 

Eine Differenzierung: Emotionales Essen bezeichnet meist kurzfristige, stress- oder emotionsbedingte Essreaktionen – etwa, wenn du aus Trauer, Wut oder Unsicherheit mehr isst als nötig. Es kann als eine unbewusste Bewältigungsstrategie verstanden werden, die oft vorübergehend und nicht unbedingt pathologisch ist.


Schwere Essstörungen hingegen sind dauerhafte, klinisch relevante Erkrankungen wie Anorexia, Bulimia oder Binge-Eating-Störung, die mit einem stark verzerrten Selbstbild, extrem restriktivem oder unkontrolliertem Essverhalten und erheblichen physischen sowie psychischen Folgen einhergehen. Diese erfordern in der Regel professionelle therapeutische Unterstützung, da sie weit über gelegentliches emotionales Essen hinausgehen.


 

Überschrift #1: Maladaptives Coping


Lass uns offen sprechen: Viele Menschen haben Herausforderungen mit ihrem Körper-/Selbstbild, dem emotionalen Essen als Coping und der Projektionsfläche der "Nahrung" an sich. Betroffene bekommen ein Label "Essstörung" und werden oft alleine gelassen. Ihnen werden Gründe genannt, wie: Medien und Werbung, gesellschaftlicher Vergleich und Arbeits- und Leistungsdruck. Das alles hat seinen Einfluss, lediglich sind die ursprünglichen Gründe, weshalb Menschen in Spiralen geraten, in denen sie sich zusätzlich durch Social-Media/Vergleichen belasten, weitaus intensiver.


Betroffenen werden oft Maßnahmen empfohlen, die zusätzliche emotionale Dynamiken verstärken: Diäten, die eine rigide und unflexible Beziehung zum Essen fördern, sowie das ständige Beschäftigtsein mit Nahrungsaufnahme und Kalorienzählung. Diese Ansätze lenken den Fokus auf den "äußeren Körper" und können dazu führen, dass das natürliche Sättigungsgefühl unterdrückt wird. Gleichzeitig wird durch strenge Essensregeln und kontinuierliche Selbstüberwachung ein Teufelskreis aus Selbstkritik, Scham und Schuld aufgebaut. Anstatt eine gesunde, intuitive Beziehung zum Essen zu entwickeln, geraten Betroffene in ein Muster, das nicht nur den Körper, sondern auch das emotionale Selbst immer wieder an den Rand der Überforderung bringt.


Diese Maßnahmen können letztlich mehr Schaden anrichten, als sie helfen, da sie die inneren Konflikte und emotionalen Dynamiken zusätzlich verstärken.


Social-Media und "die Gesellschaft" sind nicht das Problem. Dadurch wird Betroffenen wieder das Gefühl gegeben, sie würden etwas falsch machen. "Sich zu sehr beeinflussen lassen" von den Reizen im Außen. Dadurch wird die abgebildete Täter-Opfer Dynamik im Innen weiter verstärkt.


Überschrift #2: Täter-Opfer Dynamik


Nach Franz Ruppert entsteht eine Täter-Opfer-Dynamik als Folge frühkindlicher Traumatisierungen. Wenn ein Kind in Beziehungen extreme Verletzungen, Missbrauch oder emotionale Überforderung erlebt, kann es zu einer inneren Spaltung kommen. Dabei werden Teile der eigenen Persönlichkeit abgespalten: Ein Anteil bleibt im Erleben des Traumas als "Opfer" verhaftet, während ein anderer Anteil als "Täter" agiert – oft als Abwehrmechanismus, um den Schmerz zu kontrollieren oder sogar zu reproduzieren.


Später können sich diese internen Anteile in zwischenmenschlichen Beziehungen manifestieren, sodass eine Person in einem dysfunktionalen Muster sowohl Opfer als auch Täter ist. Dieses unbewusste Wiederholen der ursprünglichen traumatischen Beziehung zeigt, wie tiefgreifend ungelöste Kindheitserfahrungen das Verhalten im Erwachsenenalter beeinflussen können.


Die Täter-Opfer Dynamik kann sich unbewusst auch auf den Dualismus von Körper und Psyche beziehen. Das bedeutet: Der Körper wird als Täter oder Opfer wahrgenommen. Somit findet die ursprüngliche Dynamik eine Wirkungsfläche. Eine Spaltungsdynamik, die mich immer weiter von meinem Körper entfernt. Das abgeschnitten sein vom Körper, sich nicht wahrnehmen können, den Körper als etwas Fremdes oder Böses empfinden, sind oft Produkte aus Überlastungssituationen (Trauma) in der Vergangenheit.


Wolken die explodiert wirken

Überschrift #3: Ist jetzt alles Trauma?


Nein. Jedoch lohnt es sich, einen Blick in die verschiedenen Belastungsdynamiken zu werfen. Früher dachte ich, Trauma sei ausschließlich an Einzelauslöser geknüpft. Eine nicht zu verarbeitende Belastungssituation. Im Laufe der letzten Jahre entwickelte sich ein neues Verständnis dafür, wie weitreichend Traumatisierungen auftreten, auch ohne konkrete Einzelerfahrungen. Für mich ist es mittlerweile eher die Regel, dass Menschen Trauma (siehe weiter unten) erlebt haben, als die Ausnahme. Vor allem in Hinblick auf die letzten Generationen und dem historischen Kontext.


Eine Traumadefinition: Trauma entsteht dann, sobald meine Stressprogramme (Kampf, Flucht = Schreien, Weinen, Wegrennen usw.) in einer lebensgefährlichen Situation, das Erlebte noch schlimmer machen würden. Um die Situation auszuhalten, geht Trauma immer mit Spaltung einher. Das Erlebte (Sinnesreize, Emotionen, Anteile usw.) müssen abgespalten werden.


Um die Vielzahl der Traumabewältigungsstrategien zu verstehen, hilft folgende Einteilung:


Gesunde Anteile - Traumatisierte Anteile - Traumabewältigungsanteile (Überlebensstrategien)


Die Überlebensstragien versuchen alles, um das Abgespaltene nicht erneut zu erleben.


Da es eine große Fähigkeit der Psyche ist, die Realität wahrzunehmen, sorgt dieser Mechanismus für ein Ausblenden der Realität.

Gängige Traumaüberlebensstrategien:


  • Dissoziation und Spaltung: Traumatische Inhalte werden abgespalten, sodass belastende Erinnerungen und Gefühle nicht vollständig ins Bewusstsein integriert werden. Das führt dazu, dass Teile des Selbst als "getrennt" erlebt werden.


  • Verleugnung des Opferseins: Betroffene neigen dazu, ihre eigene Rolle als Opfer zu verdrängen oder zu leugnen, um den Schmerz und die Ohnmacht nicht unmittelbar erleben zu müssen.


  • Täteridentifikation: Ein paradoxes Phänomen, bei dem sich Betroffene mit den Täteranteilen identifizieren oder den Täter in Schutz nehmen – als Versuch, Kontrolle über die traumatische Situation zurückzugewinnen.


  • Übermäßige Selbstkritik und Schuldgefühle: Viele machen sich selbst für das Erlebte verantwortlich und empfinden starke Schuld und Scham, was den Heilungsprozess zusätzlich erschwert.


  • Autodestruktives Verhalten: In einigen Fällen manifestieren sich die Überlebensstrategien in selbstschädigendem Verhalten – als unbewusster Versuch, den inneren Schmerz zu kontrollieren oder ein Gefühl der Kontrolle zu erzeugen.


  • Resignation und Rückzug: Das Trauma kann zu einem Gefühl der Ohnmacht führen, das sich in Rückzug, Passivität oder depressiven Zuständen äußert.


Überschrift #4: Traumakategorien

Franz Ruppert unterscheidet in seiner identitätsorientierten Psychotraumatheorie verschiedene Traumata, die sich in ihren Auswirkungen auf das Selbst und die Beziehungsfähigkeit unterscheiden. Zu den zentralen Kategorien gehören:


  • Existenztrauma: Trauma, das das grundlegende Gefühl der Existenz und des Überlebens bedroht – etwa extreme Gewalt oder Lebensgefahr.


  • Verlusttrauma: Traumatische Erfahrungen, die durch den Verlust einer wichtigen Bezugsperson oder eines zentralen Elements der eigenen Sicherheit entstehen, wie etwa der Tod oder eine tiefe Trennung.


  • Symbiosetrauma: Hierbei entsteht Trauma durch zu enge, oft undifferenzierte Beziehungen, in denen die Grenzen zwischen den Individuen verschwimmen und die Entwicklung einer eigenständigen Identität behindert wird.


  • Bindungssystemtrauma: Dieses Trauma betrifft das gesamte Bindungssystem und resultiert oft aus der unzureichenden Aufarbeitung von traumatischen Erfahrungen in der frühen Kindheit, was sich über Generationen hinweg manifestieren kann.


Wie wir sehen, geht es nicht darum, Einzelsituationen erlebt haben zu müssen. Das ist ein weit verbreiteter Irrglaube. Psyche als Mehrgenerationenphänomen zu sehen, hilft uns zu unterscheiden.


Waldbrand

Überschrift #5: Und jetzt?


Durch die positiven Ergebnisse und Erfahrungen mit Klienten, kann ich heute sagen: Der Fokus darf auf die emotionale Aktivierung und Integration der Erfahrungen gelegt werden, die den Drang auslösen, Essen als emotionale Regulationsstrategie zu nutzen. Nicht auf Diäten, Essverhalten, andere Lebensmittel kaufen, Kalorien zählen usw. - Damit verschlimmert man die Dynamik oft.


Und wie so oft geht der Blick auf die ersten 10 Jahre des Lebens. Dort wo wir Autonomie und Nähe, ein Modell von Bindung, Selbstwert und die grundlegenden menschlichen Fähigkeiten lernen. Auch wenn das manchmal schwer zu akzeptieren ist. Das oben kurz erklärte Symbiosetrauma erklärt eine weitere Komponente im Ursprung: Kinder möchten sich um jeden Preis an die Eltern binden. Auch wenn die eigenen Eltern selbst traumatisiert sind. Und dieser Mechanismus sorgt dafür, dass Kinder sich auch mit diesen Traumadynamiken verbinden und damit internalisieren. Die eigene Identität verschwimmt, da nicht klar ist: Sind es meine Gefühle? Darunter leiden Abgrenzungen und gesunde Grenzen enorm.


Überschrift #6: Emetophobie

Emetophobie – Die stille Angst vor dem Erbrechen


Stell dir vor, du lebst in ständiger Sorge davor, plötzlich die Kontrolle zu verlieren – nicht vor den üblichen Alltagsstressoren, sondern vor dem Gefühl, sich zu übergeben. Emetophobie, die intensive Angst vor dem Erbrechen, geht weit über eine bloße Abneigung hinaus. Sie beeinflusst das tägliche Leben und kann zu tiefgreifenden Einschränkungen führen, die sich nicht nur auf die körperliche, sondern auch auf die emotionale Gesundheit auswirken. Dieses Thema habe ich bewusst mit in diesen Beitrag aufgenommen, um Betroffenen ein Bewusstsein für die Traumatisierungsvielfalt aufzuzeigen.


Was ist Emetophobie?


Emetophobie beschreibt eine ausgeprägte, irrationale Angst vor dem Erbrechen, sei es bei sich selbst oder bei anderen. Diese Angst kann so überwältigend sein, dass Betroffene versuchen, jede Situation zu vermeiden, die auch nur die geringste Möglichkeit des Erbrechens birgt. So entwickelt sich oft ein komplexes Vermeidungsverhalten, das das soziale Leben, die Ernährung und das allgemeine Wohlbefinden stark beeinträchtigt.


Ursachen und Hintergründe


Oft liegen den Symptomen tief verwurzelte emotionale und traumatische Erfahrungen zugrunde. Bereits in der Kindheit können unangenehme Erlebnisse – etwa plötzliches Erbrechen in unkontrollierbaren Situationen – den Grundstein für diese Angst legen. In Kombination mit gesellschaftlichen Erwartungen und einem überhöhten Körperkult entsteht ein Druck, der das eigene Körpergefühl verzerrt und die Angst vor dem Erbrechen weiter verstärkt.


Überschrift #7: Fazit


Statt den Blick ausschließlich nach außen zu richten – auf Social Media, den Körperkult oder den ständigen Vergleich – liegt der Schlüssel in der Auseinandersetzung mit den eigenen inneren Triggern. Frühkindliche Traumata können zu einer inneren Spaltung führen, in der Opfer- und Täteranteile unbewusst miteinander ringen. Diese Dynamik beeinflusst nicht nur unser Selbstbild, sondern auch, wie wir mit Stress umgehen und wie sich das auf unser Essverhalten auswirkt.


Der wahre Weg zur Heilung führt also über die bewusste Integration dieser emotionalen Muster und den Aufbau einer gesunden, intuitiven Beziehung zu uns selbst und zum Essen. Es geht darum, die eigenen Ressourcen zu erkennen, alte, unflexible Muster aufzubrechen und eine authentische Identität zu entwickeln, die dich stark und resilient macht.


Wenn du bereit bist, tiefer zu gehen und dich selbst wirklich kennenzulernen – über oberflächliche Lösungen hinaus – dann ist dies der erste Schritt auf deinem Weg zu mehr innerer Balance und nachhaltigem Wohlbefinden.


Mehr zum Thema Bedürfnisse: Blogbeitrag



 
 
 

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